Teil 7: … will nicht in die Welt hinein

Mitte November. Der Junge ist ein Trotzkopf. Er liegt so im Bauch der Mutter, wie er es will: Er kniet auf ihrem Schambein, sein Rücken drückt sich an ihre linke Bauchseite, sein Kopf ist unter ihrer linken Brust. Es ist nicht die Lage im Mutterleib, die die Natur vorgesehen hat. Doch der Junge hat einen guten Grund dafür: Er tut es der Mutter zuliebe. Sie soll keine Angst um ihn haben müssen.

Die Botschaft: „Ich verlaß Dich nicht. Wenn ich in Dir bleibe, weißt du immer, wo ich bin und wie es mir geht, und du mußt dich nicht sorgen“. Das Kind greift so die Angst der Mutter auf – und will sie ihr nehmen. Diese Angst ist bei Daniela B. größer als normalerweise, denn sie hat sechs Jahre lang versucht, schwanger zu werden. Sechs Jahre voller Mühen, Leiden, Schmerz und Not.

Und nun, im märchenhaften siebten Jahr, ist es endlich so weit, ihre Sehnsucht nach einem Kind erfüllt sich. Da will Frau B. ganz auf Nummer sicher gehen. Es wäre für sie nicht auszuhalten, wenn nun, so kurz vor dem großen Ziel, noch etwas passierte. Und außerhalb des Mutterleibs lauern überall Gefahren. Diese Sorge spürt der Junge – und er will sie der Mama ersparen.

Man wird ihn womöglich holen müssen. Mit einem Schnitt. Er muß der Mutter gewissermaßen entrissen werden. Hinaus ins Ungewisse, in eine Welt voller Unsicherheiten. So umgeht das Kind den gemeinsamen und anstrengenden Kampf von Mutter und Kind bei dessen Weg durch den Geburtskanal. Das Kind befreit sich nicht selbst, sondern will befreit werden.

In die weite Welt hinein …

Mit jedem Kind ereignet sich stets aufs neue die jedem bekannte Geschichte von Hänschen klein:

Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein
Stock und Hut stehen ihm gut, ist gar wohlgemut
Aber Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr

In diesem so harmlos daherkommenden Kinderlied steckt viel Weisheit über die Beziehung von Mutter und Kind. Zum ersten Mal geht Hänschen bei seiner Geburt in die Welt hinein. Er verläßt die paradiesische Sicherheit und Geborgenheit seines ersten Kinderzimmers – das ist der Bauch der Mutter – und geht in die weite Welt hinein.

Mit jedem weiteren Wachstums- und Reifungsschritt braucht er die Mutter weniger. Die freut sich über ihr immer lebenstüchtiger werdendes Kind – doch zugleich schmerzt es sie, denn sie hat ihr Hänschen dadurch immer weniger.

Frieden mit einem Kaiserschnitt

Ein paar Tage vor unserer Sitzung schrieb mir Frau B.: „Gabriel hockt immer noch auf seinen Knien quer im Bauch. Er hat aber noch viel Platz und kickt deswegen wie wild herum. Die Ärztin hat mir als Option eine äußere Wendung angeboten – ein manueller ambulanter Eingriff mit einer wehenhemmenden Infusion, die allerdings beim Kind Streß und bei mir Schmerzen/Blutungen verursachen kann.

Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, mein Kind mit Gewalt zum Drehen zu zwingen, nur um eine vaginale Geburt zu ermöglichen. Deshalb werde ich das nicht machen. Ich habe nun mit dem Gedanken an einen Kaiserschnitt Frieden geschlossen.

Der Termin für den eventuellen Kaiserschnitt ist der 6. Dezember, nur wenige Tage vor dem eigentlichen Geburtstermin. Damit ist bei diesem Thema der Streß raus. Die Entscheidung ist gefallen. Wenn’s nicht anders geht, wird’s ein Kaiserschnitt – und das ist für Frau B. in Ordnung.

Hausbesuch bei Frau B.

Diesmal mache ich einen Hausbesuch bei Frau B. und erspare ihr so die mühsame Anreise quer durch München. Sie schrieb mir ein paar Tage später: „Der Hausbesuch hat mir sehr gut getan. Die vertraute Atmosphäre meiner eigenen Wohnung und das streßfreie Zusammentreffen ohne lange Anfahrtswege entsprach sehr meinem starken Bedürfnis nach Ruhe in der Endphase meiner anstrengenden Schwangerschaft“.

Das Einfamilienhaus, in dem Frau B. mit ihrem Mann lebt, ist umrahmt von einem großen Garten mit alten Bäumen. Ein schöner Ort für Kinder zum Aufwachsen. Besonders fällt mir ein prächtiger Nußbaum auf. An dem wird Frau B.s Sohn Gabriel in nicht allzu ferner Zukunft das Baumklettern üben – und sie wird einen Schrecken bekommen, wenn er von weit oben stolz ruft: „Mama, schau mal, wo ich bin“ …

Zwei Wochen lang quälte Frau B. eine Erkältung, die mit einem üblen Husten einherging. Der war so heftig, daß sie sich eine sehr schmerzhafte Zerrung der Rippenmuskulatur zugezogen hat. Nun weiß sie gar nicht, wie sie sitzen oder liegen soll. Jeder Atemzug schmerzt, essen und trinken schmerzt, lachen ist die Hölle. Ohne Paracetamol war viele Nächte an Schlaf nicht zu denken.

Farben gegen Schmerzen

Frau B. baut sich auf der Couch mit einigen Kissen eine erträgliche Liegeposition und legt sich auf ihre rechte, nicht geprellte Seite. Ich „male“ mit meiner Hand über den schmerzhaften Stellen an der linken Seite eine Acht in die Luft – die tibetanische Heilacht. Eine wunderbar einfache Energie-Aktivierung.

Dazu macht Frau B. eine Farb-Visualisierung. Den Schmerz in ihren Rippen nimmt sie wahr als einen schwarz-roten, harten, kantigen, scharfen, kalten Klotz. Ich frage sie, wie es ohne Schmerzen wäre: „Ein helles Rosa, ganz weich, flauschig und warm, wie ein kuschliges Tuch“.

„Gut“, sage ich, „dann nehmen Sie jetzt wahr, wie sich der harte, kalte, schwarz-rote Klotz nach und nach in ein weiches, warmes Rosa verwandelt. Wichtig dabei: Sie machen das nicht, Sie lassen es einfach geschehen.“ Während dieser Prozeß läuft, tauchen zwei der fünf Katzen des Hauses auf, trauen sich nach einem Weilchen zu dem fremden Mann ins Wohnzimmer hinein und umschmeicheln meine Beine. Das paßt zum immer ruhiger und freier werdenden Atem von Frau B.

Nach und nach wird das harte, kalte Schwarzrot kleiner, das rosa Tuch größer, bis es alles bedeckt. Nach einer Weile verwandelt es sich in eine durchbrochene Spitzendecke, „wie Omas sie auf ihren Glastischchen liegen haben“, wie Frau B. amüsiert über den Farb-Film, der in ihr abläuft, anmerkt. Ja, diese Glastischen-Spitzendecken kenne ich auch von vielen Omas …

Und die Schmerzen? Diese Frage kann Frau B. am besten beantworten: „Die Visualisierung mit Farben hat mir sehr geholfen, den Schmerz zu besänftigen“.

Energetischer Purzelbaum?

Gemäß der natürlichen Ordnung sollte ein Kind mit dem Kopf nach unten im Mutterleib liegen, wenn es Richtung Geburt geht. Beim Jungen von Frau B. ist das nicht so. Sie hat sich, wie oben dargestellt, gegen eine Wendung des Kindes von außen entschieden, weil ihr das zu gewalttätig wäre.

Statt dessen versuchen wir einen anderen Weg, gewissermaßen einen energetischen Purzelbaum. Dazu versetze ich Frau B. in eine Tiefenentspannung und arbeite dann mit dem Kind in ihrem Bauch. Ich lege dem im Bauch sitzenden Gabriel die Möglichkeit nahe, sich eventuell, vielleicht, falls er sich das irgendwie und ganz entfernt vorstellen könnte, bis zur Geburt noch zu drehen – und visualisiere dazu diese innere Wende.

Ich halte dabei Frau B.s Bauch, spüre den quer liegenden Jungen darin, der ganz präsent ist und genau merkt, daß es nun um ihn geht und nicht mehr um gezerrte Rippenmuskeln. Ab und zu stupst er ganz leicht mit seinem Köpfchen an meine rechte Hand – ich antworte mit einem ebenso zarten Fingerdruck. Es ist eine magische halbe Stunde voller Stille und Innigkeit.

Frau B. erlebt es so: „Mein Baby ist sehr ruhig und ‚meldet’ sich nur mit leichten Bewegungen. Es ist herrlich – wie eine geführte Meditation!“

Später schrieb sie mir: „Ich bin sehr dankbar, daß Sie mir nach den letzten Wochen der Krankheit und häufigen Klinikbesuche geholfen haben, mein seelisches Gleichgewicht zu stärken.“

Ob der kleine Gabriel sich noch drehen wird? Er – und nur er – wird das entscheiden. Es ist seine Geburt, sein Start in die Welt.