Teil 6: Märchenstunde im Mutterleib

Ende Oktober. Frau B.s Kind ist nun schon 33 Wochen alt. „Was? Noch nicht geboren, aber schon 33 Wochen Wochen alt? Wie soll das gehen?“ Ganz einfach: Die traditionelle chinesische Medizin (TCM), die auch die Basis der Kinesiologie ist, berechnet unser Alter ab der Zeugung.  Das finde ich überzeugender als die bei uns übliche Datierung ab Geburt.

Wir leben ja nicht erst, wenn wir geboren werden. Wir leben vorher schon neun Monate im Leib der Mutter. Dann – bei der Geburt – verwandeln wir uns, d.h. wir verlassen einen vertrauten Zustand und beginnen einen neuen; diesmal außerhalb des Mutterleibs.

In den neun Lebens-Monaten vor der Geburt kriegen wir alles mit, was die Mutter zu bieten hat: Hormone, Blut, Emotionen, Gefühle, Stimmungen, Gedanken, Worte, Erinnerungen, Träume, Temperament, Streit, Versöhnung …

Wir lernen schon, was es heißt, Kind dieser Mutter und dieses Vaters zu sein. Denn auch den Vater bekommt das Kind mit – direkt über seine Stimme, indirekt vermittelt über dessen Kontakt zur Mutter und das, was er in ihr auslöst.

Junge statt Mädchen

Frau B.s Kind ist nun keine Valerie mehr, als die sie es zu Anfang wahrgenommen hat, sondern ein Gabriel. Das paßt für beide Eltern. 

Der Sommer war anstrengend für Frau B., sie schrieb mir im August: „Die Hitze macht mir sehr zu schaffen, ich habe mit geschwollen Füßen, Besenreißern an den Beinen und Kreislaufproblemen zu kämpfen. Habe es nun mit Kompressionsstrümpfen besser in den Griff bekommen. Gönne mir täglich meinen Mittagsschlaf, wenn der Kreislauf Probleme macht. Ich meide die Hitze tagsüber und gehe auch meiner Hausarbeit langsam nach“.

Also alles vollkommen normal, denn ein heißer Sommer schlaucht einen auch, wenn man nicht schwanger ist. Der kleine Uterus unicornis dagegen bringt immer wieder Unruhe in Frau B.s Leben. Da das Kind darin weniger Platz hat als in einer normal gebildeten Gebärmutter, bringt jeder Wachstumsschub krampfartige Schmerzen mit sich. Verstärkt werden sie durch die Verwachsungen wegen der Endometriose-Operationen, die Frau B. hatte.

Das ist nicht schön, doch das Kind wächst und gedeiht. Darum geht es. Und wir müssen uns immer wieder vor Augen halten: Sechs Jahre lang hat Frau B. vergeblich versucht, schwanger zu werden. Nun ist sie es!

Immer im Kontakt mit dem Kind

Im September haben die Eltern das Kinderzimmer eingerichtet. Ein deutliches Zeichen, daß das Kind für sie nun greifbare Wirklichkeit wird.

Frau B.s Bauch ist mittlerweile so dick, daß ihr Mann Angst hat, ihn zu berühren. Das ist schade. Ich lege ihr nahe, ihren Mann zu animieren, mit seinem Sohn direkten Kontakt aufzunehmen: indem er mit ihm redet, ihn von außen streichelt, mal bei ihm anklopft und mit ihm spielt. Beim Kind kommt das an, gerade in Verbindung mit der Stimme des Vaters.

Frau B. ist ständig in Kontakt mir ihrem Sohn, der sich viel bewegt. Sie hat die Hände auf dem Bauch, spricht mit dem Kind, beruhigt es, wenn ein lauter LKW an ihnen vorbeifährt oder die Feuerwehr-Sirene ihn irritiert und er deshalb herumzappelt.

Wir machen Gabriel präsent

Wir intensivieren nun den Kontakt von Mutter und Kind noch. Ich stelle einen Stuhl neben Frau B.s Sessel und fordere sie auf, sich vorzustellen, daß ihr Sohn dort sitzt. Es braucht ein Weilchen, dann erzählt Frau B., was geschieht: 

„Ich sehe einen kleinen, sehr lebhaften Jungen. Er ist zwei oder drei Jahre alt, wippt mit den Beinen, guckt ganz neugierig und zugleich unschuldig, grinst schließlich frech und fragt: ‚Mama, wann gehen wir raus, ich will Fußball spielen?‘ Und kurz darauf: ‚Ich hab Hunger!’ – Ich sage ihm, daß ich ihm was zu essen mache und wir dann rausgehen.“

Nach einer kurzen Pause kommt ein neues Bild. Diesmal ist Gabriel jünger, hat einen roten Strampelanzug an und brabbelt vor sich hin. „Er hat gerade seinen Brei gegessen. Es ist warm und gemütlich. Ich spreche mit ihm, sage ihm, wie schön es ist, daß er da ist und gebe ihm ein Spielzeug“.

Frau B. fühlt sich wohl und strahlt. Sie genießt die Szene intensiv. Ich warte, und so erwächst noch eine dritte Begegnung von Mutter und Sohn. Gabriel ist jetzt ein Baby, nur wenige Monate alt. Er trägt einen hellblauen, samtig-flauschigen Strampler und sendet mit seiner ganzen Existenz die Botschaft aus: „Ich bin ein kleines unschuldiges Baby. Du mußt mich beschützen und für mich da sein“.

Frau B.s Augen leuchten, sie schwärmt: „Er riecht so gut! Nach Baby und Unschuld“.

Mit gespitzten Ohren

Zum Schluß gibt es eine Märchenstunde. Ich setzt mich direkt vor Frau B. und spreche ganz langsam mit ruhiger, tiefer Märchen-Onkel-Stimme mit dem kleinen Jungen in ihrem Bauch. Er wird sofort ruhig. 

Frau B. sagt mit bewegter Stimme: „Ich spüre geradezu, wie Gabriel die Ohren spitzt! Ich hab das Gefühl, daß er ganz aufmerksam zuhört, als würden Sie ihm ein Märchen vorlesen.“

So rede ich eine Weile mit ihm. Sage ihm, daß er mich und meine Stimme von Anfang an kennt, wie sehr seine Mama sich über ihn freut, daß er bald aus ihr herausschlüpfen wird und dies und das. Entscheidend ist die Stimme, der Ton und die zugewandte, voll präsente Haltung. All das nimmt das Kind wahr  – und die Mutter spürt es.

Am 8. Dezember ist der Geburtstermin. Dann ist Gabriel zu sehen. Da ist er jetzt schon.

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Das wundervolle Wolfs-Bild am Anfang dieses Beitrags stammt von Eveline Tokaji Nagy. Sie ist TCM-Expertin und Heilpraktikerin und hat ihre Praxis in München. Ihr gilt mein Dank dafür, daß ich ihr Bild verwenden darf.