Teil 5: Lila macht stark!
Nach fünf Wochen Pause ist Frau B. wieder bei mir in der Praxis. Sie strahlt mich gebräunt an. Vor allem strahlt mich ihr Bäuchlein an – denn das ist nicht mehr zu übersehen. Da drin wächst neues Leben. Nun ist es für jeden offenbar.
Die lange Pause war der starken Schwangerschaftsübelkeit geschuldet (siehe Teil 3). Frau B. war froh, den Alltag einigermaßen zu bewältigen und blieb so weit möglich zu Hause. Eine Fahrt zu mir – durch halb München – wäre ihr in diesem Zustand wie ein Weltreise zur Zeit Marco Polos erschienen. Wir hatten Kontakt per E-Mail und SMS – und auch „energetisch“.
Wer jetzt zusammenzuckt, den verstehe ich gut, denn das klingt recht seltsam, und das ist es wohl auch. Doch wer im Kontakt zu geliebten Menschen erfahren hat, daß wir „wissen“, ob es ihnen gut oder schlecht geht, auch wenn wir weit weg sind und keine materiell greifbaren Informationen haben, der weiß, wovon ich spreche.
Nun liebe ich meine Klienten nicht wie einen Partner oder ein Kind, doch ist die Beziehung gerade beim emotionalen Thema Kinderwunsch recht intensiv und damit auf der energetischen Ebene für mich deutlich wahrnehmbar Deshalb „wußte“ ich in den letzten Wochen, daß es Frau B. gut ging.
Die Tücken der Wahrscheinlichkeit
Bevor wir kinesiologisch werden, uns also mit dem Energiefluß bei Frau B. befassen, reden wir. Eine Säule der Integrativen Kinesiologie, der ich mich verschrieben habe, ist die humanistische Psychologie von Carl Rogers (1902-1987) – und damit das personzentrierte Gespräch von Klientin und Kinesiologe. Rogers’ zentrale Grundnahme lautet: Menschen streben auch unter den widrigsten Umständen danach zu wachsen, sich zu entwickeln, autonom zu werden, sich selbst zu verwirklichen und selbstbestimmt zu leben.
Dieses Wachstum ist stets ein individuelles. Die moderne Medizin, die uns mit so viel Wertvollem beschenkt, wirft diesem Bestreben leider immer wieder Knüppel zwischen die Beine. Einer dieser Knüppel heißt „Wahrscheinlichkeit“. Bevor Frau B. schwanger wurde, hieß es, die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, liege in ihrem Fall bei 10 Prozent. Nun heißt es von Seiten des Kinderwunscharztes, aufgrund Ihrer Gebärmutter-„Fehlbildung“ (Uterus unicornis) sei höchstwahrscheinlich ein Kaiserschnitt nötig.
Wahrscheinlichkeits-Aussagen werden von einem Patienten als Aussagen über sich verstanden, er denkt „Bei mir ist es so“ und nimmt es wie einen Urteilsspruch, dem er sich resignierend beugen muß. Doch Wahrscheinlichkeiten sagen nichts über den Einzelfall.
Der große Psychiater Carl Gustav Jung hat diese negative Seite der Verwissenschaftlichung unseres Lebens schon 1957 als große Gefahr erkannt: „Unter dem Einfluss wissenschaftlicher Annahmen erleidet nicht nur die Psyche, sondern auch der einzelne Mensch und überhaupt alle Einzelereignisse eine Nivellierung nach unten und einen Verwischungsprozeß, der das Bild der Wirklichkeit zu einem begrifflichen Durchschnitt verzerrt. Man sollte die psychologische Wirkung des statistischen Weltbildes nicht unterschätzen: Es verdrängt das Individuum zugunsten von anonymen Einheiten, die sich zu Massengebilden auftürmen. Das beraubt das Individuum seiner Würde.“
Ich versuche Frau B. zu verdeutlichen, wie die statistische Sicht ihr das Leben schwer macht und viel unnötigen Streß erzeugt:
„Sie bekamen von Ihrem Kinderwunsch-Arzt die recht geringe Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent genannt, schwanger zu werden. Und nun sind sie schwanger.“
„Ja, stimmt.“
„Und jetzt haben sie vom selben Arzt die Prognose, es sei höchstwahrscheinlich ein Kaiserschnitt nötig; eine natürliche Geburt sei so gut wie ausgeschlossen …“
„Hm, …“
Die Überdramatisierung der Geburt
Ein weiterer großer Streßfaktor für Schwangere sind Verwandte, Freundinnen und Bekannte, die in fast schon sadistischer Art und Weise mit Horrorgeschichten rund um die Geburt aufwarten. Je blutiger, je schmerzhafter, je brutaler die Geschichten, um so genüßlicher werden sie der Schwangeren ungebeten bei jeder Gelegenheit um die Ohren gehauen.
Ich will hier nicht darüber spekulieren, was Frauen antreibt, werdende Mütter mit ihren Geschichten in Angst und Schrecken zu versetzen, sondern nur festhalten, daß dieser Streß ebenso unnötig ist wie der der statistischen Wahrscheinlichkeiten und den Schwangeren gleichermaßen das Leben schwer macht. Die Verbindung von Überdramatisierung mit statistischem Durchschnittsdenken ist ein trauriges und beschämendes Kennzeichen unserer Zeit.
Das Kind wächst – die Beziehung knirscht
Nun geht es kinesiologisch weiter. Mittels Muskeltest erkunde ich, was Frau B. heute braucht. Die Antwort gibt nicht ihr Verstand, sondern ihr Gesamtsystem über den Indikaktormuskel. Aus einem Menü verschiedener Methoden, das ich zur Auswahl stellen, wählt es „Touch für Health“, das kinesiologische Basisverfahren.
Dabei arbeite ich mit vierzehn Organfunktionskreisen, denen jeweils ein Muskel zugeordnet ist, welcher Auskunft über den Energiezustand des jeweiligen Organsystems gibt, z.B. Magen, Leber, Dünndarm. Wo sich eine Energieblockade zeigt, löse ich sie und aktiviere die Energie des Organkreises, so daß die Selbstheilungskräfte ihr Werk vollbringen können.
Das Ganze verbinden wir mit einem Thema, welches wir auch per Muskeltest herausgefunden haben. Hier zeigt sich zur Überraschung von Frau B., daß es kein Schwangerschafts-Thema ist, sondern die Beziehung zu ihrem Mann. Nach Jahren der Sehnsucht, schwanger zu werden, ist diese Hürde nun genommen. Die Kugel rollt. Jetzt darf sich auch anderes wieder zeigen.
Frau B.s Mann denkt zur Zeit über einen Jobwechsel nach, ist häufig gereizt und so gibt es immer wieder Streit, der Frau B. sehr belastet.
Was Frau B. nicht auf ihrem Radar hat: Während sie mit ihrer Schwangerschaft beschäftigt ist, überrollt ihren Mann – ohne daß er sich dessen bewußt wäre – eine große und völlig diffuse Verunsicherung. Denn nun wird es ernst: Das Kind, das viele Jahre nur ein Wunsch war, ist nun sichtbare Wirklichkeit. Der wachsende Bauch seiner Frau zeigt es Herrn B. jeden Tag. Er wird tatsächlich Vater. Doch was bedeutet das? Wie macht man das?
Die neun Monate dauernde Verwandlung der Frau in eine Mutter ist für jeden sichtbar und die Umgebung reagiert unterstützend darauf. Die Verwandlung des Mannes in einen Vater ist nicht sichtbar, und er muß diese meist mit sich selbst abmachen, denn die ganze Aufmerksamkeit gilt der schwangeren Frau.
Kraft durch Lila
In bezug auf ihr Thema – die Streits mit ihrem Mann – formuliert Frau B. ihr Ziel: „Ich bin stark und stabil“. Als energetische Aktivierung wählt das System der Klientin die Meridiane, soll heißen: Zeigt sich ein Blockade, wird diese gelöst durch das Halten oder Klopfen der Anfangs- bzw. Endpunktes des zum Organ zugehörigen Meridians.
Wir beginnen mit den beiden außerordentlichen Meridianen „Rèn Mài“ und „Dū Mài“, die am Damm beginnen über die Körpermitte vorne und hinten verlaufen und sich im Mund wiedertreffen. Sie sind gewissermaßen unsere Hauptstromkabel, eine Blockade in ihnen ist wie ein Kurzschluß, er sich auf alles auswirkt.
Der „Dū Mài“ zeigt eine Blockade. Dieser Meridian verläuft auf der Wirbelsäule und ist mit der inneren und äußeren Haltung verbunden. Die ist bei Frau B. noch nicht so, wie sie es gerne hätte, deshalb ja ihr Zielsatz „Ich bin stark und stabil“. Hier geht es um eine freie und gerade Haltung.
Frau B. löst die Blockade durch Klopfen des Endpunktes an der Oberlippe in Kombination mit dem Vergegenwärtigen ihres Zieles. Was dieses unscheinbare Klopfen auslösen kann, ist immer wieder atemberaubend. Ganz unvermittelt sagt Frau B., sie nehme ein strahlendes, helles Lila wahr, das ihr Stärke gebe. Ich lasse sie weiterklopfen, um diese vitalisierende Verbindung von Farbe und Gefühl in ihr tief zu verankern.
Bei anderen blockierten Bahnen bewirkt die Lösung der Blockade diese Reaktionen, Wahrnehmungen und Gefühle: Bei Milz-Pankreas hat Frau B. Schüttelfrost, beim Perikard ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit, bei der Leber durchströmt sie ein frisch-zitroniger Duft.
Beim letzten Funktionskreis, dem Dickdarm, ist es nochmal ein sehr intensiver Farbeindruck der mit der Reaktivierung des Energieflusses einhergeht: Während sie die Anfangs- und Endpunkte am Zeigefinger und der Nase klopft, erfüllt Frau B. plötzlich ein hell leuchtendes Himmelblau – genau wie die Bettwäsche, die sie gerade benutzt.
Ich deute das nicht, nehmen es einfach als kraftvolles Zeichen eines wieder in Gang gebrachten Energieflusses, der sich auch in den leuchtenden Augen von Frau B. manifestiert.
Der ganze Mensch
Wir testen nach. Frau B.s Zielsatz „Ich bin stark und stabil“ hält nun.
Nun kommt noch die Frage, die ich zum Schluß einer jeden Balance stelle: „Sind Sie bereit, ihr neues Selbstbild wahrzunehmen, anzunehmen, mitzunehmen und ins Leben zu tragen?“ Dazu der letzte Muskeltest. Ich erhalte ein klares „Ja“. Wir sind fertig für heute.
Frau B. ist nun in dem Stadium, in dem sie spürt, daß es nicht nur um sie und ihr Kind geht, sondern um den Zusammenhang, in den ihr Kind hineingeboren werden wird: Die Dynamik von Mann und Frau, Vater und Mutter. Diese beiden Ebenen werden sich von nun an ständig durchdringen, beeinflussen, stören, befruchten. Je sicherer Eltern sich als Frau und als Mann sind, desto sicherer werden sie auch als Mutter und Vater sein.
Die Verbindung und Gleichzeitigkeit von Farben, Düften, Körperempfindungen, Gefühlen, Energiefluß und Gedanken, die Frau B. in der Balance durchlebt hat, hilft ihr, ganz sie zu sein – ganz Frau, ganz Mutter, ganz Mensch.